Erinnerungen von Moritz Steinert (Auszüge, welche Scheinfeld, Stadt und Leute betreffen) Übersetzung, Erläuterungen, WEB Präsentation: Martin H.
Nicoly, Scheinfeld Zur Traditionsfirma in Boston, USA, Biographie
Übersetzung aus dem Englischen, Martin Nicoly Auszüge aus dem Kapitel I In der kleinen Stadt namens Scheinfeld, die im Königreich Bayern in Deutschland liegt, wurde ich, wie man mir sagt, am 9. März 1831 geboren. Ich habe noch nicht herausgefunden, ob es ein milder oder stürmischer Tag war, als mich meine Mutter gebar. Auch habe ich nie nachgeforscht was die Geschichte für jenen Tag bereithielt und ob es etwas Wichtiges gab, was mit diesem Vorfall verbunden ist. Aber wenn man die träge Natur des Stadtvolkes in Betracht zieht, wie sie sich in der gemächlichen Verfassung der wenigen Leute darstellt, welche die Stadtgemeinde von Scheinfeld ausmachen, müßte es ein echtes Ereignis gewesen sein.
Mein Eindruck gründet auch auf der Tatsache, daß ich, nach einer Abwesenheit von 35 Jahren von meinem behaglichen kleinen Nest, als ich wieder die Stadt betrat und umher schaute, die Häuserzeile in unangetastetem Zustand wiederfand, voll den Boden beherrschend, auf dem sie vor etwa 300 Jahren errichtet wurde. Ihr vom Wetter abgenutztes Aussehen kündet von solider Handwerksarbeit, die ihre Erbauer in sie setzten, als sie sich an ihre weltliche Arbeit machten. Die rohe Bauweise und der mittelalterliche Charakter sind sehr augenscheinlich. Ich muß jedoch gestehen, daß sich auch in dieser friedlichen Stadt der Zeitgeist bemerkbar machte, denn man sagte mir mit echtem Stolz in der Stimme, daß während meiner Abwesenheit zwei neue Häuser errichtet worden waren! Ich weiß es nicht - aber ich wünschte inbrünstig, ich wüßte, wer die frühen Siedler meines geliebten Geburtsortes gewesen waren, wie sie lebten, liebten, gediehen und starben. Ich bin mir sicher, daß es sich um ein starkes und zähes Geschlecht handelte, denn ihre Nachkömmlinge scheinen unempfindlich gegen "Vater Zeit" zu sein, und ich war erstaunt, Männer zu treffen, die sich noch immer ihres Lebens erfreuten, obwohl man sie schon jenseits ihrer besten Jahre wähnte, als ich Scheinfeld vor 35 Jahren verließ. Sie zeigten sich kaum überrascht, mich wiederzusehen, streckten mir in alter guter Freundschaft die Hand entgegen, um den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen - als ob wir erst gestern voneinander geschieden wären! Ich fing wirklich an, ein wenig zu philosophieren, als ich unter ihnen weilte und Vergleiche anstellte: ihre frischen gesunden Gesichter, ihr hervorragender Appetit, wie sie sich einer einfachen Mahlzeit erfreuten und ihr uriges Vergnügen bei einem Tonkrug bayerischen Biers, welchem ihrer Meinung nach nicht einmal himmlisches Ambrosia und Nektar gleichkam. Der Vergleich wurde bedeutungsschwer, als ich mir die Gesichter in den Großstädten, wo ich gelebt hatte, ins Gedächtnis rief und den Schluß zog, daß es letztendlich besser wäre in diese bescheidene Stadt zurückzukehren, wo die reine Atmosphäre und ein ereignisloser Lebensablauf Gesundheit und langes Leben förderten. Mir fielen urplötzlich Grays Verse
ein:
Die idyllische und malerische Stadt muß in den vergangenen Jahrhunderten eine wichtige Rolle gespielt haben, denn eine hohe durchgehende Mauer und Graben umgeben sie immer noch, während , aus der Stadtmauer in gleichen Abständen drei starke Wachtürme emporragen, von denen jeder mit großen Toren versehen ist, die gewöhnlich jede Nacht um 9 Uhr geschlossen und verriegelt werden, um alle Eindringlinge fernzuhalten. In einem der Türme wohnt der Stadtmusikus, d.h. der Stadtmusiker, dessen Pflicht es ist, bei der Hochmesse jeden Sonntag mit seinem Orchester sowie auch Choräle auf Blechinstrumenten um 12 Uhr mittags zu blasen, um die Schnitter auf den Feldern zur Mittagsmahlzeit zu rufen und am Abend ein Ave Maria zu spielen, um die Gläubigen zum Gebet zu rufen. Im zweiten Stadtturm wohnte früher der Stadthirte, dessen Geschäft es war, auf alle Kühe aufzupassen, während im dritten Turm der Gänsehirt hauste, der sich der Enten und Hühnchen annahm. Es gibt noch den Nachtwächter mit seiner alten Laterne und Horn, der die Nachtstunden mit einem malerischen kleinen Reim ausruft und sodann in sein Horn stößt. Nahe beim Marktplatz liegt das Gasthaus, eine Herberge, die im Lauf ihrer Geschichte so manchen bedeutsamen Reisenden aufgenommen hat. Das alte Zeichen zeigt ein tänzelndes weißes Pferd mit der Inschrift 'Das Weisse Ross', es knarrt beim Hin- und Herschaukeln im Wind; während sich in der Stadtmitte die katholische Kirche befindet, deren Morgenläuten um 4 Uhr die Gläubigen nicht nur zum Gebet, sondern auch zur Arbeit weckt, denn die Stadtbevölkerung in Scheinfeld steht beim ersten Lerchengesang auf. Um 7 Uhr ruft ihr melodisches Läuten die Bewohner zum Gottesdienst. Noch immer, unberührt von der Zeit, steht das Rathaus, wo Recht über die Missetäter mit gleicher Strenge wie in alten Zeiten gesprochen wird, - ein malerisches altes Gebäude, das viel Kommen und Gehen bezeugte. Jeden Morgen findet sich auf dem Marktplatz ein Angebot von frischem Gemüse zum Verkauf an die Hausfrauen, - in der Tat das aufregendste Ereignis des ganzen Tages. Sieben verschiedene Einrichtungen existieren, wo Bier gebraut und direkt vom Fass verkauft wird - und was für ein Bier ist das! Es könnte sein, daß es auch zur Langlebigkeit bzw. Vitalität beiträgt, - aber Schluß mit diesem Gedanken! Dann steht da noch das Schulhaus, eigentlich zweigeteilt, die eine Seite für die größeren, die andere für die kleineren Kinder; und gleich daneben die baufällige und schmuddelige Halle mit einer uralten Feuerspritze, die das Wasser aus der Stadtpumpe bezieht. Die Pumpe versorgt ebenfalls die ganze Stadtgemeinde und stellt einen der Tratschmittelpunkte der weiblichen Bevölkerung in der Nachbarschaft dar. Hier treffen sich die jungen Frauen und tauschen beim Auffüllen ihrer Wasserkübel die neusten Nachrichten und erlesensten Skandale aus. Hinter der Stadt erhebt sich ein bewaldeter Hügel, gekrönt vom Schloß Schwarzenberg, einem der 99 Schlösser im Besitz des Prinzen von Schwarzenberg. Mit ihm verbunden ist ein Kapuzzinerkloster mit Mönchen und Brüdern. Dieses stark befestigte und wie eine Festung unbezwingbare Schloß hat Platz genug für ein ganzes Regiment Soldaten und Häuser für alle Beamten, die sich um Tausende von Quadratmetern kümmern, die zu dem riesigen Gut gehören. Eine völlig autarke Gemeinschaft, die eine höhere Schule als die Stadt hat. So weit zur kurzen Beschreibung der kleinen Stadt Scheinfeld, deren stille und friedliche Atmosphäre mich täglich seufzen läßt, und wo ich hoffentlich eines Tages neben meiner geheiligten Mutter ruhen mag.
Homage an Scheinfeld
Ich war Kind armer Eltern und die Grenzen ihrer Geldbörse gingen mit meiner frühen Schulausbildung einher. Als ich 7 Jahre alt war, wurde ich in die Stadtschule geschickt und kurze Zeit später verstarb mein Vater. Er hinterließ meiner Mutter wenig an weltlichem Besitz, aber mit Hartnäckigkeit und unbezwingbarem Lebensmut und eisernem Sparen blieb ich bis zu meinem 12. Lebensjahr auf der Schule. Ich vermag nicht zu sagen, daß meine geistige Ausbildung aus mehr als dem Erlernen von Lesen, Schreiben, Buchstabieren mit vielleicht einigen Anfangsregeln des Rechnens bestand, denn weit mehr Zeit in der Schule war dem Studium des Katechismus und Glaubenssätzen, wie sie in der Kirche vorgeschrieben sind, gewidmet. Man lehrte uns, alle zusammen aufzustehen, wenn der Priester das Klassenzimmer betrat und als Art Willkommensgruß "Lob sei unserem Herrn Jesus Christus" auszurufen.
Als ich noch sehr jung war, entdeckte ich in mir eine große Liebe zur Musik und eine Sehnsucht, ihr faszinierendes Reich zu betreten. Und da meine Familie zur Musik neigte, fand mein Schmachten für diese Kunst und mein Wunsch sie zu beherrschen bereitwilligen Widerhall. Und mein dreizehn Jahre älterer Bruder Louis bemerkte meine Neigung und engagierte den alten Kantor und Kirchenorganisten, um mir die Anfänge des Klavierspiels beizubringen, denn zu jener Zeit gab es kein Pianoforte in ganz Scheinfeld, aber der Kantor besaß ein Klavichord, auf dem er mir Stunden erteilte. Im Unterrichten folgte er einer ganz besonderen Methode. Er pflegte mich in sein kleines Zimmer zu rufen, wo das Klavichord stand, und ohne mich mit geschriebenen Noten zu belästigen, machte er mich mit der Tastatur bekannt und lehrte mich die einzelnen Noten zu treffen und später Akkorde zu bilden. Nachdem ich dies beherrschte, pflegte er sich niederzusetzen und irgendeine leichte Weise für mich zu spielen. Er forderte mich auf, sie im Gedächtnis zu behalten. Nach mehreren Wiederholungen mußte ich mich setzen und sie korrekt für ihn spielen, wessen ich mich - und das versichere ich Ihnen - befleißigte. Wenn ich danebengriff und nicht nach seinen Anleitungen spielte, pflegte er mir das Hinterteil gehörig zu verbleuen. Oft pflegte er sich mit folgendem Ausspruch vom Klavichord zu erheben: "Ich gehe jetzt für ein Weilchen aus, Moritz, und ich erwarte von Dir, daß Du die Weise perfekt spielst, wenn ich wiederkehre." Er pflegte dann seinen Hut zu nehmen, die Tür hinter sich abzuschließen und zum Bierkeller gegenüber auf der Straße zu gehen, um nach einigen Krügen kühlen bayerischen Bieres wiederzukommen. Er sagte dann beim Aufsperren und Öffnen der Tür: "Jetzt, Moritz, bin ich bereit; hören wir das Stück," und ich gab dann, der ich wie ich schon erwähnte, starke Gründe hatte, seiner Aufforderung zu genügen, das kleine Stück normalerweise korrekt wieder. Da ich nun dank der Strenge des alten Kantors mein musikalisches Wissen gefestigt wähnte, meinte ich nun Nutzen aus dem Unterricht des Stadtmusikus ziehen zu müssen, der mich Flöte und Geige lehrte. Er schien ein modernerer Lehrer als der alte Kantor zu sein, denn ich mußte nun auch die Notenlehre erlernen. Meinen Gitarrenunterricht, - denn ich lernte auch dieses Instrument spielen,- erhielt ich vom Stadtschornsteinfeger, der nicht nur als Künstler in Sachen Schornsteinfegen angesehen wurde, sondern diesen Ruf auch dem "Fegen" seiner Hände über die Gitarrensaiten verdankte. Viel verdanke ich ihm für die Nachsicht, die er angesichts meiner Ausübung dieser Kunst zeigte. Man darf vermuten, daß ich mich seinerzeit fast als Experten der Musik sah, mit allen Vorzügen meiner mannigfaltigen Lehrer ausgestattet, und ich tauchte mit Herz und Seele in weitere Studien. Ich muß hier bemerken, daß Wagners Musik damals nicht bekannt war, und Beethovens Werke uns nur dem Namen nach geläufig waren, sonst hätte ich möglicherweise eine andere Meinung betreffs meiner musikalischen Fähigkeiten gehabt. Wie ich schon erwähnte, gab es eine exzellente Schule beim Schloß auf dem Hügel, und der Schulmeister namens Herr Schütz galt als großer Musiker. Und da er ein großes Klavier besaß, hielt mein Bruder dies für eine hervorragende Gelegenheit für mich, bei ihm Musik zu studieren und Klavier zu lernen. Sein Entgelt war glücklicherweise niedrig, - nur 6 Kreutzer; etwa 3 US Cents - eingeschlossen das Taschenbuch meines Bruders. Schütz war wirklich ein guter Lehrer und er unterrichtete mich mit einem Lehrbuch. Um das monotone Tonleiterspielen zu variieren, auf das er besondersten Wert legte, pflegte er kleine Melodien für mich zu schreiben, die er während der Stunden komponierte, und die ich als äußerst angenehmen Zeitvertreib empfand, wie man sich denken kann. Es gab nur einen unschönen Umstand beim Studium mit Herrn Schütz. Ich mußte nach der Schule den Hügel buchstäblich hinaufrasen, denn meine Stunde dauerte von 3 bis 4 Uhr und ich erhielt nicht die Erlaubnis, die Schule eine Minute vor Schulschluß um 3 Uhr zu verlassen. Ich mußte den ganzen Weg rennen und kam atemlos an - aber ich schaffte die Strecke in bemerkenswert kurzer Zeit. Eines Tages, während der Unterrichtsstunde - Schütz war nicht nur der Schulmeister, sondern auch der musikalische Direktor der Klosterkirche - kam Pater Quartian zufällig hinzu und hörte meinem Spiel zu. Er lobte mich und sagte Schütz, daß ich großes Talent besäße. Da Pater Quartian selber ein großer Musiker war, freute ich mich und vor allem als er in der nächsten Stunde wiederkam und anbot, mich in Kirchenmusik, wie sie in der katholischen Kirche üblich ist, zu unterrichten. So erhielt ich seine Erlaubnis bei der Messe zu singen und lernte den klösterlichen Musikstil kennen, der sich überaus vom normalen Gottesdienst unterscheidet. Die erfreulichen Gelegenheiten solcher musikalischen Vorzüge, wie dem Pater beim Orgelspielen zuzuhören und auch der religiöse Geist, den der Mann ausstrahlte, werden mir immer frisch im Gedächtnis bleiben. Die Musik des Orchesters beim Gottesdienst, das unser Stadtmusikus leitete, unterschied sich beträchtlich von der üblichen Musik, mit der die Tanzveranstaltungen der Landbevölkerung "beliefert" wurden... Mit 12 Jahren wurde ich zu meinem Schwager geschickt, der von Beruf Optiker war und in Koblenz am Rhein lebte. Große Veränderungen kamen auf mich zu, als ich diese große Stadt erreichte, die damals nur 20000 Einwohner aufzuweisen hatte, mir aber in ihrer Größe wie eines der sieben Weltwunder erschien...
Kapitel X Rückkehr nach Scheinfeld - Sammeln alter Instrumente - Die Todesgeige Nach fast 40 Jahren Abwesenheit nahm ich das Dampfschiff nach Bremen, begleitet von meiner Frau und Tochter Mollie, -teils auch um für mich selber Nutzen aus dem ärztlichen Rat für Frau Steinert zu ziehen, bei der sich erste Anzeichen von Schüttellähmung zeigten, und Scheinfeld wieder zu besuchen, um mein geliebtes Klavichord dort zu finden. Es ist nicht nötig, die Wechselfälle der Reise, verursacht durch den Gesundheitszustand meiner Frau zu betonen. Nachdem wir einige der hervorragendsten Ärzte in Frankreich und Deutschland konsultiert hatten, ließ ich meine Familie in Heidelberg unter der Obhut von Professor Erb zurück und brach nach Scheinfeld auf. Als ich mich dem kleinen Ort näherte, schien mir dessen Anblick wie ein trauter Freund,- auf der einen Seite die kleine Baumgruppe, wohlriechender Tannenduft, auf der anderen Seite Roggenfelder verstreut hier und da mit blauen Kornblumen, welche mich freundlich bei der Vorbeifahrt grüßten; hier eine Kreuzung mit dem Bild der Heiligen Jungfrau mit dem Kind im Arm, und vor mir in einiger Entfernung die Kirchturmspitze, weiß und einsam unter grünen Laubbäumen. Als ich in den Weiler kam, schlug die Glocke zwölf Uhr, und die Schnitter, bereit für die Mittagsmahlzeit, kamen in Scharen von den Wiesen. Die Frauen trugen ihre breiten Körbe mit hoch angehäuftem frisch geschnittenen Gras auf dem Rücken. Meine Ankunft erzeugte eine Sensation, denn eine Kutsche mit einem Gentleman war ein ungewöhnlicher Anblick, und ich konnte in den Gesichtern des Stadtvolks lesen, wie neugierig sie waren, herauszufinden wer ich war und was ich in Scheinfeld treiben mochte. Ich näherte mich dem Gasthaus "Zum Ross", und hier stieg ich aus. Die ehrbare Frau des Wirts war nicht weniger neugierig als der Rest der Ortsbewohner. Sie begrüßte mich liebenswürdig mit den Worten "Grüß Gott" und half mir mit dem Gepäck. Aber sie hatte einen wachen Geist, wie ich Ihnen versichern kann, denn kaum hatte ich ihr den Rücken zugekehrt, forschte sie den Kutscher aus und erfuhr, daß ich ein amerikanischer Reisender namens Steinert wäre. Sie lief sodann zu mir, hielt mir beide Hände entgegen und rief in ihrer Freude aus: "Heilige Maria, Mutter Gottes, da ist ja der Herr Steinert!" Wo kommen Sie her? Wir haben Sie seit langem erwartet. Die ganze Stadt wartet auf Sie, und wenn ich vorher Bescheid gewußt hätte, hätte ich eine junge Gans geschlachtet und für Sie das Rebhuhn gebraten, welches mein Mann am Morgen geschossen hat. Ach Gott! Ich bin so glücklich. Babetta! Babetta! Bring gleich einen Krug Bier für Herrn Steinert." Dies war meine Heimkehr! Foto, Dr. Benno Bulitta Ich betrat das "Ross". Alles war wie vor 50 Jahren, als ich als Bub Bier für meine Leute daheim holte: derselbe alte Ofen in der Raummitte, dieselben längs der Wand angenagelten alten Bänke, die Tische mit ihren klauenartigen Beinen, die schmalen Fenster,- sogar der weiße Sand auf dem Boden hatte sich gegen einen Teppich behauptet. Ich rannte zur Türe und sah dahinter die alte gesprungene Schiefertafel. Ein kurzes Kreidestück hing an einer Schnur herab, und immer noch diente sie als "Geschäftsbuch" für die nächtlichen Versammlungen. Tatsächlich, der kleine Ort war noch genau derselbe wie ich ihn verlassen hatte, außer daß zwei oder drei neue Häuser gebaut worden waren. Obwohl sich der Ort so wenig verändert hatte, konnte ich das nicht von meinen Eindrücken behaupten, denn als ich die Straße entlang schritt, die meinen Bubenaugen so breit und lang erschienen war, und auf die Häuser blickte, die mir immer so riesig groß und geräumig vorgekommen waren, rieb ich mir die Augen, um zu sehen, ob ich wirklich wach wäre: alles war so klein geworden,- die Straßen so eng, so primitiv. Ich hielt nach den Menschen Ausschau, die in den Straßen schwärmten, sodann nach der Kirche, deren Spitze sich meiner Erinnerung nach in den Wolken zu verlieren schien. Ach, ich kam ja geradewegs von Köln mit seinem Dom! Das malerische weiße Gebäude war runzelig geworden und der Kirchturm war fast auf Spielzeuggröße zusammengeschrumpft! Nur meine Klassenkameraden, ehemals echte Kraftmeier, schienen sich nicht verändert zu haben. Freilich waren auch sie alt geworden, ihre Augen funkelten nicht mehr vor jugendlichem Feuer und ihre frischen, jungen Gesichter waren aus den Fugen geraten und faltig geworden, aber ihr Lachen war herzlich, ihr Herz genauso jung geblieben und ihre Lebenslust noch stärker als bei meinem Abschied vor 35 Jahren. Die Enkelkinder der hübschen Maiden, mit denen ich auf der Gänsewiese zu spielen pflegte und für die ich Kränze im Frühling ihrer Jugend und Schönheit gewunden hatte, brachten mir jetzt frische Sträußchen und gebundene Girlanden aus dem Tale, wie es auch ihre Großmütter in der süßen Vergangenheit gemacht hatten. Ach, alles war so schön! Heim, süßes Heim! Ich war deiner idyllischen Ruhe so lang fern. Du bist noch der bescheidene Ort, geborgen in deiner Abgeschiedenheit vom Fortschritt der Welt. In deinen Armen kann ich alles finden, was lieblich und schön ist. In deiner heiligen Ruhe werden lange vergessene Erinnerungen wieder wach und leben von neuem auf. Als ich mich an jenem Abend zurückzog, kehrten die Bilder des Tages wieder und ich weiß, sie werden mich nicht mehr verlassen, solange mein Erinnerungsvermögen besteht. Ich erkannte, daß jeder seines Glückes Schmied ist, ein jeder kraft seines Verstandes und Willens eine eigene Welt schaffen kann und es in seiner Macht steht, das Leben glücklich zu gestalten. Als ich so in Gedanken versunken war, wurde mir eine Stimme aus der stillen Nacht zugetragen und ich konnte die Worte vernehmen:
Das war der alte Nachtwächter. Ich sprang aus dem Bett und rannte ans Fenster und öffnete die Gitterläden. Das Nachtwächterhorn hallte dreimal vom Schwarzenberger Hügel wider. Der Wächter ging die Straße weiter hinab, seinen kleinen Reim singend. Da stand ich verloren in der Flut süßer Erinnerungen und in jener Nacht im kleinen "Ross" war ich wieder der kleine Scheinfelder Bub, daheim bei seiner geliebten Mutter. Nach einigen Tagen in meiner Geburtsstadt begann ich mit der Suche nach meinem Klavichord, das nach Auskunft meines Bruders Louis, der damals in Koblenz wohnte, in Scheinfeld zurückgelassen wurde, da es so alt und klapprig war, daß er es als unnützes Möbelstück betrachtete. Er sagte auch, daß er nichts über den Verbleib wüßte. Ich war jedoch nicht eingeschüchtert und nach einem Tag Suche hatte ich Erfolg. Ich konnte die Spur bis zur Turmwohnung des alten Dazian zurückverfolgen, der es nach dem Wegzug meines Bruders an sich genommen hatte. Man sagte mir, daß Dazian vor vielen Jahren gestorben sei und sein Nachfolger, sein Bruder Joseph, auch nicht mehr unter den Lebenden weilte. Herr Bayer hatte jetzt die Stellung des Stadtmusikus. Ich ging zum Torturm, erklomm die steilen, gewundenen Stufen zu den Wohnräumen auf der Suche nach Herrn Bayer. Völlig außer Atem klopfte ich an der Tür und erfuhr von einer älteren Frau mit sympathischen Gesichtszügen, die mir anstelle des Stadtmusikus öffnete, daß er auf dem Feld wäre, um Kartoffeln zu hacken. Ich stieg hinab und eilte zu ihm. Ich erkannte in ihm den Flötenspieler der Kapelle des alten Dazian. Jetzt war er ein Mann von 75, alt und gebeugt. Wir begrüßten einander, denn er erinnerte sich an mich als den Jungen, der von seinem Onkel unterrichtet worden war, und er wußte auch, daß ich jetzt in Amerika lebte. Vor sich hatte Herr Bayer ein Korb voller Kartoffeln, den er mit meiner Hilfe schulterte. Zusammen machten wir uns zu seiner Turmwohnung auf. Auf meine Frage nach dem alten Klavichord sagte er mir, sein Onkel hätte ein altes, das der Steinert Familie gehört haben müßte. Er hatte es viele Jahre behalten, um Musik zu komponieren und Stücke zu bearbeiten. Es befände sich im alten Turm. Und wieder stieg ich die steilen Stiegen hoch, vor mir der alte Musiker mit seinen Kartoffeln auf dem Rücken. Als ich in das erste Wohnzimmer eintrat, sah ich mein altes Klavichord in einer Ecke stehen. Voller Freude im Herzen erwarb ich das Instrument, zudem das Violoncello, auf dem ich meine ersten Stunden erhalten hatte, 6 Geigen und einige Violinen. Es waren alles Instrumente, die meinem alten Lehrer Dazian gehört hatten und von ihm geliebt wurden. Ich interessierte mich brennend, alte Instrumente aus der Vergangenheit, die großen Kompositeuren des 17., 18. und frühen 19. Jahrhundert gedient hatten, zu sammeln. Ich wollte durch gründlichere Nachforschungen die allgemeine Ansicht unserer modernen Musiker widerlegen, daß die Werke dieser Klassiker auf dem heutigen Klavier besser klängen. Mit deren Meinung konnte ich nicht übereinstimmen und schrieb diese Fehleinschätzung Unwissenheit und mangelnder Kenntnis besagter Instrumente zu. Dafür benötigte ich viele Instrumente. Da Scheinfeld so glücklich dank seiner geographischen Lage, sowie seiner geschichtlichen und religiösen Bedeutung lag, hatte ich mich nicht geirrt und den Ort gefunden, der meinen Augen versteckte Schätze von großer Kostbarkeit bei meinen Forschungen enthüllen würde. Scheinfeld und seine Umgebung liegt abseits der großen Städte in einem Gebiet, wo der Zeitgeist noch nicht eingedrungen ist. Historisch und religiös ist der Platz bedeutsam, da er zahllose Klöster und Konvente aus einer Zeit besitzt, als Priester über die weltliche Macht und Schicksale der Bürger walteten. Die Priester waren die eigentlichen Herrscher, und diese geistlichen Fürsten pflegten die feinen Künste, kultivierten die Musik, insbesondere im Kloster, denn die Kunst ruhte damals im Schoße der Kirche. Ein Instrument wie das Klavichord mußte ihrer geistigen Natur ähneln. Ich wußte auch, daß vor etwa 100 Jahren ein neuer Geist der Freiheit über das Volk in diesem Land gekommen war. Fromme Männer und Frauen waren gezwungen, wegen Verfolgungen durch dieses neuen Regimes zu flüchten. Sie ließen auf der Flucht eben diese Schätze zurück, die solch Trost und Liebe den Menschen gaben. Diese Schätze wurden entweder eingezogen oder gelangten in den Besitz einfacher Menschen, vor allem der Landbevölkerung. Nachdem die neuen Besitzer verstarben, verloren sie die Nachkömmlinge aus den Augen, vor allem wenn sie an Orten gelagert waren, die nie von der Familie aufgesucht wurden. Mit solchem Wissen ausgerüstet begann ich nach alten Instrumenten zu suchen, und ich freue mich sagen zu können, daß ich alles fand was ich mir wünschte: ich fand sie unter der Traufe so vieler alter Häuser versteckt, im Schutt einer Scheune oder Kuhstall und oft auch in den Taubenschlägen. Viele Schätze wurden in feuchten Kellen geborgen, wo sie Jahre unter dickem Moder geruht hatten. Da sich die Besitzer ihrer Schätze nicht bewußt waren, bestand meinerseits die Schwierigkeit, sie zu überzeugen, daß sich alte Instrumente tatsächlich im Haus befanden. Und wenn sie fest solche Besitztümer bestritten, beharrte ich gleichermaßen auf meiner Behauptung. Nur zögerlich erlaubte man mir zu suchen, meist erst nach Lockmitteln wie dem Angebot eines Glas Biers oder einer Zigarre meinerseits. Dann durfte ich eine Kerze nehmen und sie überall hin begleiten. Meist fand ich ein Stück, manchmal sogar zwei, und konnte sie in meine Sammlung aufnehmen. Und der Preis, das kann ich Ihnen versichern, unterschied sich beträchtlich von dem, der für solch noble Erzeugnisse verlangt wird.
Hier muß ich jedoch festhalten, daß man diese Instrumente nicht mehr spielen konnte. Zwar waren ihre "Körper" zerbrochen, aber sie waren reich an Ausstrahlung, obwohl sie keine Saiten mehr hatten. Die Faszination, die mit meiner Jagd nach alten Klavichords, Harpsichords und Hammerklavieren einherging, kann ich kaum in ihrer nostalgischen und romantischem Fülle widergeben. Auch die humorvolle Seite ist kaum zu beschreiben, denn so manch altes Spinett oder Klavichord, auf dem ich heute spiele, scheint von der komischen Episode inspiriert, die mit seiner endlichen Aufnahme in meinem Herzen und Heim verbunden ist. Eines morgens, als außer unseren gefiederten Sängern noch alles in Stille eingehüllt war, lief ich durch die kornblumenblaue Wiese, und hielt inne, um die Dorfbewohner in der Nähe bei der Arbeit zu beobachten. Ihre Gesichter strahlten vor Zufriedenheit, als sie ihre Sensen schwangen und sich unterhielten. Mein Herz war von der friedlichen Szene bewegt, die sich vor mir ausbreitete. Und als ich über die Brücke schritt, die sich über den kleinen plätschernden Bach spannt, der die Grenze zwischen Scheinfeld und Schnodsenbach bildet, und letzteren Ort erreichte und auf die mittelalterlichen Häuser blickte, fühlte ich, daß sich mir ländliche Landschaft in ihrer Gänze bot. Es war 12 Uhr und ich hörte die melodischen Klänge der Mittagsglocke. Überall herrschte ansonsten Stille. Und doch welche Töne wehten da an mein Ohr? Musikklänge? Ja, sicherlich,, und erstaunt schritt ich schneller voran und erreichte eine kleine Hütte, von der die Klänge zu kommen schienen. Als ich näherkam, erkannte ich die Zaubertöne der Geige, obwohl der Spieler alles andere als ein Virtuose sein mußte. Sein Repertoire bestand nicht aus klassischer Musik, aber einfacher gefühlvoller Volksmusik. War es die Folge meiner eigenen Stimmung oder des Geigenspielers, daß ich ein merkwürdigen Unterton bemerkte? Die Geige klang nach solch zärtlichen Mühen, atmete in ihren Tönen solchen Schmerz und unerfülltes Sehnen, daß ich unfreiwillig ins Wohnzimmer des kleinen Landhauses trat. Der Geigenspieler saß auf einer rohen Holzbank, daneben seine Frau, während die beiden Kinder auf dem Fußboden spielten. Als ich eintrat, setzte er die Geige ab, erhob sich unwillig und hieß mich willkommen. Ich bot ihm meine Hand, sprach ihn an, und nach kurzer Zeit unterhielten wir uns ziemlich vertraut. Er sagte mir, er wäre Fuhrwerkhersteller. Das kleine Haus diente als Werkstätte und Wohnstatt. Armut blickte mir aus jeder Ecke entgegen. Es herrschte ein solcher Mangel an Möbelstücken wie man es bei den noch ärmeren Schichten vermutet. Und doch hatte er gerade auf einer Geige gespielt, die einen Königspalast zieren hätte können! Welch ein Gegensatz! Die Geige bot wie die Hütte das Bild von Armut schlechthin, denn ihr wohlgeformter Nacken war nun gebeugt. Sie war in einem nackten Zustand und ihr reiches Lackkleid war völlig verschwunden, obwohl sie immer noch Spuren einstiger adeliger Schönheit trug. War dies vielleicht der Grund, warum sie in so schwachem und klagendem Ton sang? Oder hatte sie nur in Jugenderinnerungen geschwelgt, als sie frisch, jung und ausnehmend schön, aus der Hand ihres Schöpfers auftauchte und als ihr strahlender hellfarbener Glanz und Sonnenlicht entzückt einander küßten und sich auf ihrer hinreißenden Lieblichkeit widerspiegelten? Schwelgte sie vielleicht noch in Erinnerung an den Griff der Hände dieses Künstlers und seinen zärtlich liebevollen und bewundernden Blick, als er ihren exquisit gearbeiteten Nacken und ihr medusagleiches Haupt streichelte? Viele Jahre sind seitdem vergangen, dachte ich mir, als ich ihren jetzigen Eigentümer befragte, wann sie in seinen Besitz gelangte. "Die Geige," sagte er, "ist ein Erbstück meines Vaters, der zu seiner Zeit für die Dorfjugend zum Tanz aufspielte. Doch," und er rieb sich gedankenvoll seine Augenbraue, "es gibt da noch eine andere Geschichte, die mit diesem Instrument verbunden ist und sie geht bis in die Zeiten zurück, wo mein Großvater sie besaß. Auch er wie mein Vater spielten auf der Geige. Ich kann Ihnen die Geschichte erzählen, wenn Sie sie hören wollen?" und er blickte mich mit forschenden Augen an. "Auf jeden Fall," antwortete ich, wachgerüttelt aus meinen Träumen, denn ich hatte mich in Erinnerungen der Vergangenheit verloren. Nach kurzer Pause fuhr er fort: "Vor vielen Jahren, als der Feind mit flammendem Schwert dieses friedliche Land verwüstete und als es in die Hände seiner Unterdrücker fiel, kam einer mit anderen feindlichen Soldaten hierher, der infolge der Beschwernisse des Feldzugs schwer krank geworden war. Er schleppte seine müden Glieder bis zu unserem Dorf und hoffte Aufnahme zu finden. Aber er war ein Feind und überall wehrte man ihn ab. Nachdem er es an allen Türen erfolglos versucht hatte, sank er krank und hilflos vorm Tor meines Großvaters zusammen, überwältigt von den Anstrengungen. Da fand ihn, mit dem Kopf auf dem Tornister liegend, mein Großvater. Er seufzte erbarmenswürdig und bat um Wasser, denn seine Lippen waren vom Fieber ausgedörrt. Goßvater ging zum Brunnen, füllte eine Tasse und brachte sie dem Sterbenden. Er hob seinen Kopf an und gab ihm zu trinken. Sodann, angesichts des Leids von Mitleid gerührt, brachte er ihn ins Haus und sorgte für ihn, bis er seinen Atem aushauchte. Einige Stunden vor seinem Tod bat er um seinen Tornister und Großvater brachte ihn. "Öffne ihn," sagte er, "Du wirst dort meine Geige finden, die Du mir bitte geben wirst; ich möchte ihr noch einmal zusprechen, bevor ich sterbe." Großvater öffnete den Tornister, nahm die Geige heraus und gab sie ihm. Der sterbende Soldat ergriff sie begierig, drückte sie immer wieder an seine Lippen, und weinte wie ein Kind. Mit einem letzten zärtlichen Kuß übergab er sie meinem Großvater mit den Worten: "Bitte behalte diese Geige als Beweis meiner Dankbarkeit für einen Feind. Sie war mein treuer hingebungsvoller Begleiter gewesen, seit ich ein Bub war und die Sprache der Kunst durch ihre Stimme auszudrücken lernte. Ich habe viele Tage und lange schlaflose Nächte hingegeben, die Macht zu erwerben, die schlummernden Mühen von Treue und Liebe aus ihrem Inneren hervorzurufen. Sie war mein ganzer Trost in meinem Kummer. Mit ihrem lieblichen Klang entschwebte ich auch in eine andere Welt. Mit ihren Melodien hatte ich Zutritt zu den Großen und Mächtigen in fürstlichen Hallen, und schöne Damen von hohen Stand haben ihre edlen Häupter vor ihrer Stimme gebeugt und ihr Grüße und Küsse mitgegeben. Ich besaß die Gabe, meine Zuhörer zu Freude wie Kummer zu bewegen. Mein Name klang einst durch alle Lande wegen der hinreißenden Gewalt meiner Geige. Vielleicht hast Du schon von mir gehört? - Ich heiße.. Aber das ist jetzt nicht mehr von Bedeutung! Er ist schon in Gottes Buch aufgenommen, und Du würdest ihn nicht kennen oder Dich daran erinnern, wenn Du ihn hörtest. Eines Tages änderte sich alles, denn die Kriegstrompete schallte durch das Land und rief die Männer, für ihr Heim zu kämpfen, auf. Ich nahm meine Geige, verließ mein Zuhause, meine Eltern, meine Liebste, um mein junges Leben hier im Feindesland einzusetzen. Auf dem blutigen Schlachtfeld war meine Geige mein einziger Trost." Bei diesen Worten nahm er mit zitternden Fingern wieder seine Geige, strich mit dem Bogen über die Saiten und rief Töne von Trauer und Schmerz hervor. Immer trauriger wurde diese mühseelige Weise, bis sie wie ein zarter Hauch, dem Wispern eines Engels gleichend, in die Luft entschwebte. Mit diesem letzten Seufzer fiel die Geige aus den Händen des sterbenden Soldaten und er sank tot um. Es war das "Schwanenlied" der Geige. Die Geige blieb viele Jahre unberührt, denn mein Großvater fand ihren Ton zu düster für Tanzmusik. Er nannte sie die "Todesgeige". Aber einst spielte sie unser alter Schulmeister während einer feierlichen Requiemmesse in der Kirche und nie wurde der Schmerz des "Agnus Dei" gefühlvoller als bei diesem Anlaß vorgetragen". Ich war von dieser Erzählung auf wunderbare Weise ergriffen. Ich fühlte mich von dem starken Verlangen bewegt, diese Geige zu besitzen, fand aber kaum den Mut, meinen Wunsch auszusprechen. In aller Ausführlichkeit rief ich mir die Armut, den Mangel an Komfort ins Gedächtnis - und was der Erlös für die Geige diesem Bauern und seiner Familie bringen würde. Ich sagte: "Wären sie willens, sich von dieser alten Geige zu trennen?" Nach kurzem Zögern antwortete er: "Seit langem habe ich die Absicht, sie restaurieren zu lassen. Nie hatte ich das nötige Geld und ich wäre willens, sie ihnen zu geben, wenn ich sicher wäre, daß ihr ein besseres Schicksal in ihren Händen zuteil würde." Danach war es für mich eine leichte Sache, mit ihrem Besitzer einig zu werden und bald wechselte die Geige in meine Hände. Zurück in Amerika nahm sie bald wieder ihren früheren Glanz an, ihr schwacher Körper wurde gestärkt, alle Übel, die sie während der langen Jahre des Exils angenommen hatte, waren geheilt, und wieder strahlte ihr Gesicht rosafarben vor Gesundheit. Von ihrem Haupt waren alle Trauerlinien verschwunden. Vorbei waren die klagenden Untertöne, sie lacht und lebt von neuem! Sie spielt nicht mehr für Tänze der Dorfburschen und Mädchen, sondern - von Jüngern der göttlichen Kunst, gepriesen, geliebt und getragen von den Schwingen des Liedes, klingen ihre Töne jetzt in den Kunsttempeln wider und geben den Schöpfungen von Meisterseelen Ausdruck. Wer kann ihren Herzschlag ergründen , wenn der inspirierte Künstler sie an sein Herz drückt. Welches Schicksal mag sie erwarten, wenn ein weiteres Jahrhundert vergangen ist? Meine besonderen Methoden, diese alten Fallen aufzustellen, die außerordentliche Energie, die ich für ihre Entdeckung aufbringen mußte und all die anderen Techniken, die schließlich diese Musikantiquitäten in meinen Besitz brachten, schufen viel Verwunderung und großes Erstaunen im Scheinfelder Adel sowie bei jenen, die etwas Wertschätzung genießen mögen. Dieser Landadel, der etwas Auskommen hat, was für Gans und Gänserich reicht, hat keinerlei Zwänge im Sinn, wie sie ansonsten in Amerika der allmächtige Dollar schafft. Sie kennen ihren Platz und verstehen die Trennlinie, welche die Bierstube des "Weissen Ross" durchzieht, wo sie sich allabendlich zum sehr demokratischen Brauch versammeln, ungestört von Familiensorgen Bier zu trinken, zu schwatzen und ihre langen Pfeifen zu rauchen. Ich will hier klarstellen, daß die Bierstube des Grand Hotels "Das Weisse Ross" in zwei Abteilungen gegliedert ist. Der innere Raum ist für das Stammpublikum, während der äußere für Leute von Rang und Namen reserviert ist. Ich muß auch sagen, daß ich mich der Dienste eines Fahrers versicherte, der mir mit seinem rumpelnden Wagen und gefügigen Paar Pferde als Fortbewegungsmittel zu den kleinen Weilern und Bauernhöfen diente, die sich um Scheinfeld drängen. Er hat mir als Art Wohnsitz für die Kunstschätze eines vergangenen Zeitalters gedient.
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